33

 

Nikolais Herz erstarrte in seiner Brust zu einem entsetzten, angsterfüllten Eisklumpen. Während die Gegend immer noch von Maschinengewehrsalven erschüttert wurde, hatte er es die ganze Strecke zurück durch den Wald geschafft, zu dem Ort, an den sein Blut ihn führte, wo sich seine zutiefst verstörte Gefährtin aufhielt.

Renata war da. Sie stand in der mondhellen Dunkelheit des Waldes, reglos wie eine Statue, und sah zu, wie ein riesenhafter Gen Eins-Vampir vor Mira kauerte und das Kind in seinen grausamen Pranken hielt.

Niko bewegte sich geräuschlos, schlich sich näher heran und versuchte, eine Position zu finden, von der aus weder Renata noch das Kind in seiner Schusslinie standen.

Spreng ihn doch mental weg, Renata.

Mach ihn alle, und dann nichts wie weg hier.

Sie tat es nicht. Weder richtete sie ihre mentale Waffe auf ihn, noch streckte sie auch nur einen Finger nach ihren anderen Waffen aus. Nein, zu seinem Entsetzen rührte sie sich nicht vom Fleck. Stand einfach nur da, mitten in einer Szenerie, die sehr schnell zu einem höllischen Sturm von Blutvergießen und Gewalt ausarten konnte.

Nikos eigene Angst in diesem Moment war bodenlos.

Alles, was er spürte, war der Schrecken, der ihn von innen in Fetzen riss und seine Knochen zu Eis gefrieren ließ, eine so wilde und unendliche Verzweiflung, dass ihm das Herz wie eine Basstrommel schlug.

Er zog die zwei .9mm-Pistolen, die er an den Hüften trug, und schlich sich näher heran. Obwohl er sich in einer Geschwindigkeit bewegte, zu der nur ein Vampir fähig war, sah Renata auf. Sie spürte seine Anwesenheit an dem plötzlichen Luftzug, auch wenn er so schnell war, dass ihre Augen ihn nicht wahrnehmen konnten. Ihr Blut sagte ihr, dass er in ihrer Nähe war, so wie auch sein Blut sie immer finden würde.

Er war zu sehr von seiner Wut abgelenkt, um ihren alarmierten Blick zu registrieren - mit dem sie nicht etwa den feindlichen Vampir ansah, sondern ihn selbst.

Mit einer blitzschnellen Bewegung griff Nikolai an, bereit zu töten. Direkt hinter dem großen Gen Eins kam er zum Stehen und drückte beide Pistolenläufe fest gegen die Glyphen,  die sich den rasierten Hinterkopf des Vampirs hinaufzogen.

Es geschah im Bruchteil einer Sekunde, aber in Nikolais Bewusstsein spielte sich alles in entnervender Zeitlupe ab.

Er spannte den Hahn der Pistolen, die Finger auf den Abzügen.

Renatas Augen weiteten sich. Sie schüttelte den Kopf.

„Niko ... warte ... nicht!"

Der Gen Eins ließ Mira los, ließ seine riesenhaften Hände sinken. Er reagierte nicht einmal auf die Waffen an seinem Kopf. Seine Brust hob sich, als er einen tiefen Atemzug tat und dann einen resignierten Seufzer ausstieß.

Er würde nicht um sein Leben kämpfen.

Es kümmerte ihn nicht, ob er starb.

Und dann schrie Mira, ihre Kinderstimme hoch vor Angst.

„Nein! Tu ihm nicht weh!"

Nikolai sah in überraschter Ungläubigkeit - in höchster Verblüffung zu -, wie Mira einen Satz nach vorne machte und ihre Arme um die breiten Schultern des Gen Eins schlang.

„Bitte, tu ihm nicht weh!", rief sie und starrte flehend zu Nikolai auf, während sie versuchte, den riesigen, kauernden Vampir mit ihrem winzigen Körper zu schützen.

„Nikolai." Renata fing seinen Blick auf, als er ungläubig aufsah, die beiden riesigen Pistolen immer noch schussbereit auf den Kopf des Gen Eins gerichtet. „Nikolai... bitte, es ist okay. Warte eine Sekunde."

Er runzelte fragend die Stirn, aber seine Kriegerhaltung entspannte sich ein wenig. „Aufstehen", befahl er dem Vampir. „Aufstehen, und weg von dem Kind."

Der Gen Eins gehorchte ohne Kommentar, löste langsam Miras Ärmchen von seinem Hals und stellte sie vor sich auf den Boden, während er aufstand.

Niko ging um ihn herum, um ihm frontal gegenüberzustehen, die Waffen immer noch auf ihn gerichtet. Mit einer Armbewegung scharte er Renata und Mira hinter sich. „Wer zum Teufel bist du?"

Kalte, ausdruckslose Augen starrten den Waldboden an.

„Man nennt mich den Jäger."

„Du bist nicht von der Agentur", sagte Nikolai argwöhnisch.

„Nein. Ich bin einer der Jäger."

Renata zog Mira an sich und hielt sie fest, während sich um sie herum das Maschinengewehrgeratter von Nikolais Ablenkungsmanöver in den Wäldern und beim Haus allmählich legte. „Seine Augen, Nikolai", sagte sie und verstand nun. „Er ist der goldäugige Killer, der versucht hat, Sergej Jakut zu ermorden. Er ist es, Mira hat es mitangesehen."

Nikolais Miene verfinsterte sich. „Ist das wahr? Bist du ein Auftragskiller?"

„Ich war einer." Der Jäger nickte grimmig und hob nun endlich den Blick. „Das Kind hat mich gerettet. Etwas . . in mir hat sich verändert, nachdem ich in dieser Nacht die Vision in ihren Augen gesehen habe. Ich habe gesehen, wie sie mir das Leben gerettet hat, genauso, wie es eben passiert ist."

Im nächsten Augenblick wimmelte es im umgebenden Wald von bewaffneten Männern, die sie aus allen Richtungen einkreisten. Nikolai hatte seine Waffen im Anschlag, machte aber keine Anstalten, das Feuer auf die Neuankömmlinge zu eröffnen. Renatas Puls raste in heller Panik. „Scheiße, Niko ..."

„Ist schon okay." Er beruhigte sie mit einem beschwichtigenden Blick und ein paar sanften Worten. „Das hier sind die Guten. Meine Freunde vom Orden."

Erleichtert sah sie zu, wie vier von Nikolais Ordensbrüdern auf die Lichtung traten. Jeder Einzelne von ihnen war beeindruckend in Größe und Haltung, ein Kader von Muskeln und Macht, dessen bloße Anwesenheit die Luft aus den Wäldern zu saugen schien.

„Alles klar, Amigo?  Wie läuft's denn so?", fragte eine weiche Karamellstimme, die Renata nun als die von Rio erkannte.

Nikolai nickte, Augen und Waffen immer noch auf den Gen Eins in ihrer Mitte gerichtet. „Ich hab die Lage hier im Griff, aber beim Haus ist alles schiefgelaufen. Edgar Fabien ist tot, und Dragos und die anderen sind durch den Hintereingang abgehauen. Sie sind mit einem Boot zur anderen Seeseite hinübergefahren. Ich habe versucht, sie zu verfolgen, aber dann ..." Er sah Renata an. „Ich musste zuerst sichergehen, dass hier alles okay ist."

„Wir haben ein Leichtflugzeug über uns wegfliegen hören, als wir angekommen sind", sagte Rio.

„Scheiße", zischte Nikolai. „Das werden sie gewesen sein.

Sie sind weg. Verdammt noch mal, Dragos saß direkt vor unserer Nase, und der Mistkerl ist uns entwischt."

„Lasst mich euch helfen, ihn zu finden."

Aller Augen richteten sich auf den Vampir, der immer noch in Nikolais Schusslinie stand.

„Warum sollten wir dir trauen?", fragte Nikolai und machte die Augen schmal. „Warum würdest du uns helfen, Dragos zu kriegen?"

„Weil er derjenige ist, der mich erschaffen hat." Keine Wärme lag in den goldenen Augen des Gen Eins-Killers, als er auf die Frage antwortete, nur kalter Hass. „Er hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Mich und all die anderen Jäger, die er züchtet, um für ihn zu töten."

„Oh mein Gott", keuchte Renata. „Willst du damit sagen, es gibt noch mehr wie dich?"

Der rasierte Schädel nickte düster. „Ich weiß nicht, wie viele es sind oder wo sie sind, aber Dragos hat mir selbst gesagt, dass ich nicht der Einzige meiner Art bin. Es gibt noch andere."

„Warum sollten wir dir glauben?", fragte ein anderer Krieger. Dieser war fast so schwarz wie die Nacht, die sie umgab, seine Zähne und Fangzähne schimmerten wie Perlen gegen seine dunkle Haut.

Nun trat ein weiterer Krieger zu ihnen, seine Augen unter dem kurz geschorenen, rabenschwarzen Schopf schnell und klug wie die eines Wolfes. „Lassen wir Tegan entscheiden, ob wir ihm trauen können."

Überrascht und mit leichtem Grauen sah Renata zu, wie der Größte der Gruppe - ein Krieger, der sich bisher abseits gehalten hatte und wie ein Geist in den Schatten geblieben war - einige Schritte nach vorne trat. Hünenhaft, mit lohfarbenem Haar, das unter der schwarzen Strickmütze hervorstand, war er ein breiter, hoch aufragender Klotz aus Muskeln und dunkler Energie, fast so groß wie der Gen Eins, der vor ihm stand und sein Urteil erwartete.

Wortlos streckte der Krieger namens Tegan seine riesige Hand aus. Der Jäger nahm sie, sein Blick so fest wie sein Händedruck.

Nach einem langen Augenblick nickte Tegan vage. „Er kommt mit uns. Sichern wir das Terrain und dann nichts wie raus hier."

Renata spürte, wie eine schwere Last von ihr abfiel, die Anspannung des Augenblickes sich angesichts ihres neuen Zieles löste. Die Gruppe teilte sich, der Großteil der Krieger brach auf, um sich um die Lage bei Fabiens Haus zu kümmern, während Rio und Nikolai mit Renata, Mira und ihrem unerwarteten Begleiter zurück zum Fahrzeug des Ordens gingen, das auf sie wartete.

Als sie fast angekommen waren, nahm Nikolai Renatas Hand in seine. „Wir kommen gleich nach, Rio."

Der Krieger nickte. Als sie weitergingen, sah Renata erstaunt, wie Mira ihre winzige Hand in die riesige Pranke des Jägers schob.

„Mein Gott", sagte sie zu Nikolai. „Was ist da nur passiert?"

Er schüttelte den Kopf, sichtlich genauso verblüfft wie sie.

„Schätze, es wird eine Weile dauern, bis ich dahintergekommen bin. Aber zuerst will ich herausfinden, wie die Dinge zwischen uns stehen."

„Nikolai, es tut mir leid ..."

Er zog sie in die Arme und brachte sie mit einem langen, liebevollen Kuss zum Schweigen. „Das hab ich verbockt, Renata. Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren, dass ich dich mit einer dummen, rücksichtslosen Lüge fortgetrieben habe. Ich hätte mir nie verzeihen können, wenn dir oder Mira was passiert wäre. Du bist mein Herz, Renata. Du bist mein Leben." Er streichelte ihre Wange, sein Blick umfing sie, trank ihren Anblick. „Ich liebe dich so sehr ... ich will keinen einzigen Moment mehr ohne dich an meiner Seite leben."

Sie schloss die Augen, von ihren Gefühlen überwältigt.

„Ich habe mir nie etwas sehnlicher gewünscht", flüsterte sie mit vor Freude zugeschnürter Kehle. „Ich liebe dich auch, Nikolai. Aber eins musst du verstehen, ich bin nicht einzeln zu haben. Mira ist zwar nicht mein eigenes Kind, aber sie ist das Kind meines Herzens. Ich liebe sie, als wäre sie mein eigenes."

„Ich weiß", sagte er ernst. „Das hast du deutlich genug bewiesen."

Renata sah zu ihm auf, unfähig, die Hoffnung zu zügeln, die ihr in der Brust flatterte. „Denkst du, in deinem Leben - in deinem Herzen - ist Platz für uns beide?"

„Wie kommst du drauf, dass ihr dort nicht schon eingezogen seid?" Er küsste sie wieder, dieses Mal sanft. Als er in ihre Augen sah, war sein Blick so voller Liebe, dass es ihr den Atem nahm. „Lass uns von hier verschwinden. Ich will meine Mädels nach Hause bringen."

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